European Reality – Kleine Stilkunde Realismus
Wie sah die Realität in Europas 1920er und 30er Jahren aus? Und wie heute? Gibt es Parallelen, die uns helfen, zukunftsfähige Visionen zu entwerfen – ohne vorschnelle ideologische Einordnung? Nach einer revolutionären Phase der abstrakten Kunst wenden sich Künstler:innen im Realismus wieder der Darstellung des Alltäglichen zu. Anstatt die soziale Situation zu romantisieren oder zu idealisieren, zeigen sie iMenschen, Natur und Gesellschaft möglichst sachlich und emotionslos, wie sie eben sind.
Selbstportrais und Selfies
In eindrucksvollen Selbstportraits vergewissern sie sich der neuen, modernen Identität. Gerade Künstlerinnen nutzen ihre Selbstdarstellung, um sichtbarer zu werden. Spielen diese Faktoren in den Selfies heutiger Tage eine vergleichbare Rolle – oder sind sie ganz anders zu verstehen?
Hunger, Elend und Nachtleben im Realismus
Besonders auffallend ist die Ambivalenz dieser Zeit. Zum einen wirken die Erschütterungen und Verletzungen des ersten Weltkriegs nach. Andererseits florieren Bars und Tanzlokale, mit denen die Goldenen Zwanziger am ehesten gezeichnet werden. Diese Diskrepanz, sich im Angesicht von Hunger, Armut, drohendem Nationalismus und neuer Kriegsgefahr ausgelassen zu vergnügen, ist ein Phänomen, das sich auch heute beobachten lässt.
Körperkult
Um Kämpfe und Siege geht es auch im Sport. Im Sport beginnt sich der Körperkult zu wandeln: von natürlicher Freiheit hin zu gestählten Idealen. Die Wurzeln heutiger Schönheitsnormen und Body Culture – bis hin zum Operationswahn – liegen hier.
Backlash
Und dann: Der Rückschritt. Freiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, kulturelle Offenheit über die Ländergrenzen hinweg schwinden. Nationalismus, Diktatur, Totalitarismus breiten sich aus – mit katastrophalem Ausgang.
Gerade deshalb ist ein Blick auf die Kunst dieser Zeit so aufschlussreich. Die Ausstellung „European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“ öffnet den Blick für historische Zusammenhänge und gesellschaftliche Umbrüche. Muster, die bis in unsere Gegenwart wirken. Und für das, was wir daraus für unsere Gegenwart ableiten können.
Es grüsst sie herzlich, Ihre Eva Mueller

Abb. links: „Epoche“ von Lotte B. Prechner (1877-1967), 1928, Öl auf Leinwand, im Besitz der Friedrich-Ebert-Stiftung e.V.
Lotte B. Prechner skizziert hier die Lage Europas um 1928. Sie collagiert dazu unterschiedlichste Zeichen, Symbole, Elemente, die uns assoziativ das erstarken totalitärer Systeme erkennen lassen.
Abb. rechts: „ILA“ von Albin Egger-Lienz (1869-1926), 1919/20), Öl auf Holz
Der Künstler portraitiert hier seine jüngere Tochter. Kinderportraits zeigen in dieser Zeit zunehmend individuelle Züge. Sie sind nicht mehr nur Anhängsel bei Familiendarstellungen.
Ausstellung „European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“